„Munich roots“ – Nachfahren und Nachfahrinnen von NS-Verfolgten recherchieren im Bayerischen Hauptstaatsarchiv

Von Fabienne Huguenin

Acht Familien aus Argentinien, England, Italien, Israel, den Niederlanden und den USA waren vom 4. bis 8. November 2024 zu Besuch in München. Als Nachfahren und Nachfahrinnen von Verfolgten des Nationalsozialismus begaben sie sich auf die Spuren ihrer Familienangehörigen, die einst in der bayerischen Landeshauptstadt lebten. Die Erkundung ihrer Münchner Wurzeln – „Munich roots“ – führte sie auch in das Bayerische Hauptstaatsarchiv.

Recherchen zum Verfolgungsschicksal

Die Veranstaltung begann mit einer Erläuterung der Organisation der Staatlichen Archive Bayerns sowie der Vorstellung der Bestände von Hauptstaatsarchiv und Staatsarchiv und des Projekts „Transformation der Wiedergutmachung“ der Staatlichen Archive Bayerns. Dieses Projekt wurde vom Bundesfinanzministerium als Folgeaufgabe der Wiedergutmachung initiiert. Für den anschließenden Workshop „How to find your family resources“ lagen Akten mit Informationen zu den jeweiligen Vorfahren und Vorfahrinnen bereit. Mitarbeitende des Archivs unterstützten beim Transkribieren und Übersetzen der deutschsprachigen Originaldokumente und erläuterten die bürokratischen und historischen Zusammenhänge. 

Zwei Personen sitzen über einen Tisch gebeugt und blicken auf vor ihenen aufgeschlagene Akten
Workshop „How to find your family resources“ | Elisabeth Miletic, BayHStA

Die Akten des Bayerischen Hauptstaatsarchivs stammen unter anderem aus dem Landesentschädigungsamt oder bayerischen Ministerien, die mit der „Wiedergutmachung“ behördenseitig betraut waren. Gemeint sind damit sämtliche Maßnahmen zur Kompensation von Schäden für Verfolgte des NS-Regimes. In Antragsverfahren und behördlichem Ablauf unterschieden wird zwischen „Entschädigung“ und „Rückerstattung“. Bei der Entschädigung steht der Ausgleich für erlittene immaterielle Schäden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit oder im wirtschaftlichen Fortkommen aufgrund nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen im Mittelpunkt. Die Rückerstattung hingegen zielt auf die Rückgabe feststellbarer Vermögensgegenstände, die verfolgungsbedingt entzogen wurden, oder auf die Zahlung von Schadensersatz.

Mehrer Personen sitzen an Tischen, vor ihnen liegen aufgeschlagene Akten.
Workshop „How to find your family resources“ | Elisabeth Miletic, BayHStA

Wurde von einer verfolgten Person kein Antrag auf „Wiedergutmachung“ gestellt, sind auch keine Akten zu finden. In anderen Fällen sind nur rudimentäre Informationen überliefert. Wenn hingegen ein Antrag auf den Weg gebracht wurde, dann liegen zumeist Formulare vor, die Auskunft über das Leben und das Verfolgungsschicksal geben können. Manchmal ist sogar ein Passfoto beigelegt. Zeugenaussagen, die Beschreibung einer Fluchtroute oder Angaben zu einer Wohnungsausstattung können weitere Hinweise liefern. Auch wird bei mehrfachem Wohnungswechsel deutlich, dass der Vorfahre verfolgt war. 

Oft müssen jedoch mehrere Archive konsultiert werden, um ein umfassenderes Bild des Verfolgungsschicksals zu erhalten. Das Themenportal „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ strebt deshalb die digitale Zusammenführung von Unterlagen an, die bei unterschiedlichen Behörden in ganz Deutschland entstanden und daher heute auch in verschiedenen Archiven verwahrt werden.  

Begegnungen und persönlicher Austausch in München

Die Idee zur gemeinsamen Reise nach München war bei Zoom-Meetings mit Provenienzforscherinnen und -forschern entstanden. Diese hatten zur Herkunft von 145 Silberobjekten aus dem Stadtmuseum München recherchiert und nach berechtigen Erben und Erbinnen gesucht. Denn zwischen 1939 und 1940 hatte das Museum Silberobjekte beim Städtischen Leihamt erworben, die auf staatlichen Zwang hin von jüdischen Familien abgeliefert werden mussten (die sogenannte „Silberzwangsabgabe“). Durch die Recherchen der letzten Jahre konnten 47 Namen von jüdischen Eigentümern und Eigentümerinnen ermittelt werden. Um mehr zu erfahren, entschlossen sich einige der Familien zur Reise nach Bayern. Das umfangreiche Programm „Munich roots“ wurde von Dr. Regina Prinz, Leiterin des Bereichs Provenienzforschung am Stadtmuseum München, erstellt und gemeinsam mit elf Kooperationspartnern und -partnerinnen durchgeführt. Es beinhaltete Führungen und Vorträge, unter anderem im NS-Dokumentationszentrum, beim Zentralinstitut für Kunstgeschichte, auf dem Neuen Israelitischen Friedhof und in der Ohel-Jakob-Synagoge. 

Beim feierlichen Akt zur Rückgabe der Silberobjekte im Jüdischen Museum München sprachen Angehörige der Verfolgten des NS-Regimes. Sie berichteten ergreifend über die Lebensgeschichten ihrer Großeltern, Urgroßeltern oder anderer Verwandter. Schließlich übergaben sie die restituierten Objekte dem Stadtmuseum und dem Jüdischen Museum München, damit sie auch zukünftig am Ort ihrer Herkunft ausgestellt werden können. Im Gepäck nehmen die Familien somit keine Objekte mit, dafür neue Erkenntnisse zum Schicksal ihrer Vorfahren und Vorfahrinnen. Und einige erfuhren sogar von bislang unbekannten Verwandten, die sie erstmals in München trafen. 

 

Fabienne Huguenin, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns